sichten suchen finden

Ausstellung:
18. Februar – 3. April 2022

Ausstellungseröffnung:
Freitag, 18. Februar ab 14 – 19 Uhr
Rita Ernst wird anwesend sein

Führung:
Freitag, 25. März, 17 Uhr
Gemeinsamer Rundgang durch die Ausstellung mit Sabine Schaschl (Direktorin Museum Haus Konstruktiv, Zürich) und Rita Ernst

Finissage:
Sonntag, 3. April 2022, ab 13 – 17 Uhr

Website der Künstlerin:
https://www.rita-ernst.ch/

Rita Ernst lebt an verschiedenen Orten, im Zentrum von Zürich und in Trapani, einer Stadt in Sizilien. An zwei Orten zu leben heisst auch, sich in unterschiedlichen Kulturkreisen aufzuhalten, sich mit verschiedenen Mentalitäten auseinanderzusetzen und ein Mannigfaches an Eindrücken und Empfindungen aufzunehmen. Selbst der gelebte Alltag, das Essen und das Licht eines heissen Nachmittags unterscheiden sich. Immer wieder abzureisen und anzukommen ermöglicht es, die vertraute Umgebung in neuen und ungewohnten Perspektiven zu entdecken.

Mit ihrer Kunst verhält es sich ähnlich. Sie kommt uns bekannt vor, obwohl sie nicht von hier ist. Wir fühlen uns an etwas erinnert, vermögen es aber nicht zu beschreiben. Kupfer, Rot, Grau, Schwarz und Weiss, sie alle sind uns als Farben bekannt, doch in welchem Winkel unseres Gedächtnisses sollen wir nach Hinweisen suchen? Und wie verhält es sich mit den Formen? Wir kennen sie von irgendwoher, können sie aber nicht einordnen. Zudem ist keine wie die andere, sie unterscheiden sich voneinander und entfalten sich individuell. Eine Entfaltung impliziert das Vorhandensein einer Logik. Man entfaltet vor dem Essen eine Serviette oder ein Tischtuch und man entfaltet Argumente in einem Gespräch. Individuell meint nicht solitär und auch nicht unabhängig. Die verschiedenen Formen in Rita Ernsts Bildern sind zwar Einzelteile, doch sie verbinden sich zu einem grossen Ganzen und machen die eigentliche Komposition des Bildes aus.

Wie Rita Ernst zwischen verschiedenen Orten und Kulturkreisen pendelt, so sind auch ihre Bilder permanent in Bewegung. Monolithisch wirken sie nur im ersten Moment. Doch sobald wir unser Sichten abgeschlossen haben, beginnen unsere Augen zu suchen. Sie spüren den Formen nach, versuchen sie zu verstehen, ihren Gehalt zu ergründen, um einen Sinn im ganzen Bild zu finden. Dabei machen die aufblitzenden Assoziationen nur einen Teil des Wesenskerns dieser Bilder aus. Als eine Geh- und Sehhilfe sind sie aber durchaus nützlich.

Die einzelnen Formen, seien sie vollflächig bemalt oder mit einem Rahmen versehen, erinnern an Kisten, an offene Schubladen, ganz allgemein gesprochen an gefüllte und leere Gefässe. In einem früheren Werkkomplex hat sich Rita Ernst intensiv mit den Grundrissen der Häuser des deutsch-amerikanischen Architekten Ludwig Mies van der Rohe befasst. Sie hat seine Grundrisse nicht detailgetreu in ihre Kompositionen übertragen, sondern konzentriert sich auf Ausschnitte, da sie in ihnen eine Qualität erkennt. Sie destilliert aus Fotografien und Plänen jene Elemente, die sie für die wesentlichen Merkmale seiner Architektur erachtet, und baut daraus eigene Kompositionen, die zwar an den Barcelona-Pavillon oder die Villa Tugendhat erinnern, nicht aber sie abbilden. Ähnlich verfährt sie bei den Arbeiten, die sie im RappazMuseum zeigt. Auffällig sind in der Serie Salinas Palermo die extrem perspektivische Ansicht, die sich einzig aus der Fläche entfaltet, und die Singularität der miteinander interagierenden Formen.

Mit Salinas Palermo bezeichnet Rita Ernst eine Serie von Werken, die seit 2018 entsteht und deren Name sich auf das Museo Archeologico Regionale Antonino Salinas in Palermo bezieht, dessen Grundstock die Sammlung des 1814 gegründeten Museo dell’Università bildet. Dem Archäologen Antonino Salinas (1841–1914) verdankt das Museum zahlreiche Exponate, die dieser bei Ausgrabungen gefunden hat, weshalb das Museum ihm zu Ehren seinen Namen trägt. Der Tempelbezirk von Selinunt und das Museum in Palermo sind von Rita Ernsts sizilianischem Wohnsitz Trapani in einer guten Stunde zu erreichen.

Die in der Ausstellung vereinten Werke lassen lediglich indirekte Analogien zu den Exponaten im Museum in Palermo erkennen. Die Richtung ihrer Absichten weist uns der Ausstellungstitel «sichten suchen finden», der an die Aktivitäten der archäologischen Bodenforschung und damit wohl eher an den Ort der Praxis, beispielsweise an den Tempelbezirk von Selinunt, als an eine museale Auslegeordnung erinnert.

Den Farbklang aus Rottönen, Grau, Schwarz und Kupfer, in einigen Arbeiten ergänzt durch ein reines Weiss, bezeichnet Rita Ernst als pompejanisch. In der Tat sieht Pompejanisch Rot, ein Pigment, das durch Brennen von Terra di Siena erzeugt wird, den Rottönen auf den Bildern sehr ähnlich. Doch auch die anderen Farben, einschliesslich Kupfer, finden sich im Gebauten und seiner Umgebung. Man erkennt allerdings solche Nuancen – in diesem Fall sind es die eigentlichen Spielfelder, auf denen die Handlung stattfindet – nur, indem man selbst tätig wird und sich bewegt.

Während Architektur ihrem Verhalten nach statisch ist, sind es die Benutzer und Bewohner, die sie zu etwas Beweglichem machen, indem sie sich aktiv zu ihr verhalten. Und genau diese Aktivität fordern auch die Bilder von Rita Ernst ein. Erst wenn wir in körperlicher und geistiger Bewegung sichten und suchen, werden wir mit Fundstücken belohnt. Unsere Recherche ist daher vergleichbar mit derjenigen der Archäologen, die sich mit dem Wissen zur Geschichte und Bedeutung eines Ortes sowie mit einem allzeit beweglichen Geist ans Werk machen, um Unbekanntes ans Tageslicht zu holen und Vorhandenes entsprechend zu interpretieren. Wie in der Archäologie geht es auch in den Bildern von Rita Ernst nicht um abschliessende Urteile, dies wäre zu absolut und zu statisch. Wichtiger für alle Akteure an diesen Bildern, also für Urheber wie Betrachter, ist die individuelle, unvoreingenommene, spielerische und somit höchst subjektive Interpretation: ein auf eigener Erkenntnis basierendes Sichten, Suchen, Finden.

Simon Baur

Fotos: Michael Herden, Armin Vogt