Konstruktive Statements von 10 Künstlerinnen und Künstlern

Francesco Camponovo
Corsin Fontana
Johannes Gachnang
H.J. Glattfelder
Daniel Göttin
Karin Käppeli – von Bülow
Rolf Rappaz
Ruedi Reinhard
Maya Stange
Eva Wohlleben

Ausstellung:
22. Juli –  9. Oktober 2022

Vernissage:
Freitag, 22. Juli 14 – 18 Uhr

Finissage:
Samstag, 8. Oktober 2022, 13 –17 Uhr

Der Begriff «Konkrete Kunst» wurde vor gut 100 Jahren vom niederländischen Künstler Theo van Doesburg eingeführt und bei der Gründung der Gruppe «Art concret» programmatisch festgelegt für eine Kunstrichtung, die im Idealfall auf mathematisch-geometrischen Grundlagen beruht. In seinem Manifest formuliert er die entsprechenden Voraussetzungen so: «Das Kunstwerk muss im Geist vollständig konzipiert und gestaltet sein, bevor es ausgeführt wird. Es darf nichts von den formalen Gegebenheiten der Natur, der Sinne und der Gefühle enthalten. Wir wollen Lyrismus, Dramatik, Symbolik etc. ausschalten. Das Bild muss ausschliesslich aus plastischen Elementen konstruiert werden, sprich aus Flächen und Farben. Ein Bildelement hat keine andere Bedeutung als sich selbst.» Manifeste sind oft radikal formuliert, was eine wortwörtliche Umsetzung erschwert. Zudem gehen Manifeste von einem aktuellen Zustand aus und ignorieren eine bereits vollzogene künstlerische Entwicklung der beteiligten Künstler:innen.

So waren in der Ausstellung «Konkrete Kunst», die im März/April 1944 in der Kunsthalle Basel stattfand, die folgenden Künstler:innen beteiligt: «arp, bill, bodmer, kandinsky, klee, leuppi, lohse, mondrian, taeuber-arp, vantongerloo». Nicht wenige der Beteiligten würden wir heute als abstrakte (sie haben ihr Werk aus den formalen Erfahrungen der Natur, aus dem Lyrismus und der Symbolik Richtung ungegenständliche Welt entwickelt, bzw. abstrahiert), nicht aber als konkrete Künstler:innen bezeichnen.

«Bei van Doesburg, der von De Stijl und dem mit Mondrian geteilten Neoplastizismus herkommt, findet sich auch der Gegensatz von Dekonstruktion und Konstruktion. Weg mit alten Zöpfen, bei Null anfangen, um eine neue Kunst zu erfinden, universal im Anspruch, eine Weltkunst dank dem überall verstandenen Code der Geometrie.» (Margrit Weinberg Staber)

Max Bill hat den Begriff der «art concret» 1925 in Paris kennengelernt und für die Einleitung des Katalogs der 1949 stattgefundenen Ausstellung «Züricher konkrete Kunst» eine neue Definition gefunden: «ihre gestaltungsmittel sind die farben, der raum, das licht und die bewegung. durch die formung dieser elemente aufgrund einer rein geistigen, schöpferischen konzeption entstehen neue realitäten. vorher nur in der vorstellung bestehende abstrakte ideen werden in konkreter form sichtbar gemacht. konkrete kunst ist in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem mass und gesetz. sie ordnet systeme und gibt mit künstlerischen mitteln diesen ordnungen das leben. sie ist real und geistig, unnaturalistisch und dennoch naturnah. sie erstrebt das universelle und pflegt dennoch das einmalige. sie drängt das individualistische zurück, zugunsten des individuums.» An anderer Stelle schreibt er: «das ziel der konkreten kunst ist es, gegenstände für den geistigen gebrauch zu entwickeln, ähnlich wie der mensch sich gegenstände schafft für den materiellen gebrauch. (…) konkrete kunst ist in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem mass und gesetz. sie ordnet systeme und gibt mit künstlerischen mitteln diesen ordnungen das leben.»

Die in der Ausstellung «ARTconcret» versammelten Künstler:innen setzen die von Theo van Doesburg formulierten Thesen nur teilweise um. Auch wenn Johannes Gachnang die Gebäude und architektonischen Formen auf seinen Radierungen erfindet, so orientiert er sich doch an bestehender Architektur. Die in der Fläche angeordneten Linien und Schraffuren erinnern an Idealarchitektur oder die «Carceri-Darstellungen» G. B. Piranesis und schaffen neue Realitäten, wie sie von Max Bill gefordert werden.

Auch die «Möglichkeits-Räume» und «Möglichkeits-Partituren» von Eva Wohlleben, setzen das Vorhandensein von Räumen und Partituren voraus. Nachvollziehbarer ist in ihrer Kunst die von Max Bill vorgeschlagene Definition «reine[r] ausdruck von harmonischem mass und gesetz» und die Ordnung von Systemen. Zu ihren Arbeiten schrieb sie: «Zur Ausstellung im Rappaz Museum wird das Kernstück meines Beitrags eine Reihe von sieben Plastiken sein: Aus Bitumen-Ölpappe schichtweise aufgebaute Schlaufen mit jeweils drei Kreuzungspunkten. Zusammen bilden sie die Möglichkeits-Partitur der Triloops, deren maximale Anzahl eben diese sieben sind. Dazu zeige ich grossformatige Zeichnungen aus der Reihe ‹Polyliner›. Ausgehend von der Vielfalt unregelmäßiger Körper, die auch ein- und zweieckige Flächen haben können, ziele ich auf das Übergeordnete, wie es sich in der Vollständigkeit der Notationsreihen abbildet.» Man muss sich einige Zeit in diese Arbeiten eindenken, um die einzelnen Kanten, es handelt sich um gekrümmte Kanten oder Grate, überhaupt zu sehen und ihre Bedeutung in den Abfolgen der Partituren zu verstehen.

Die Arbeiten von Francesco Camponovo bestehen aus monochromen Linien und Flächen. Mal bilden sie ein lineares Quadrat, mal eine räumliche Anordnung. Es ist möglich die Linien und Flächen zweidimensional oder räumlich zu sehen, doch so ist es vom Künstler nicht intendiert.

Für seine Holzschnitte bemalte Corsin Fontana Holzplatten mit Dispersionsfarbe, liess diese trocknen und färbte erst danach die Platten mit der Druckfarbe ein. Durch dieses Verfahren bestimmt der Pinselduktus die Erscheinung des Motivs. Der schwarz-weisse Holzschnitt basiert auf einem Überdruckverfahren mit Offsetfarbe. Hier zeigen sich die abstrakten Ideen, die in konkreter Form sichtbar gemacht werden.

Eine Artist Residency in der Chinati Foundation in Marfa, Texas, und die Beschäftigung mit dem Werk von Donald Judd wirkte inspirierend. Wie Donald Judd, verwendet auch Daniel Göttin verschiedene Materialien, die er zu Objekten kombiniert und sich in einem hybriden Bereich zwischen Relief und Bild bewegen. Assoziationen zu formalen Gegebenheiten der Natur stellen sich nicht umgehend ein. Auch ist kein Rückschluss auf die Gesetzmässigkeiten möglich, denen die Anordnung der jeweiligen Formen und Farben zugrunde liegen. Daniel Göttins Werke sind spannende Seh- und Denkobjekte.

Maya Stange entwickelt ihre Arbeiten aus dem Quadrat, das sie durch verschiedenste Techniken aufbricht, durchlöchert, verschiebt. Wie beim chinesischen Legespiel Tangram werden mit einfachsten, reduzierten Mitteln einfache Formen zu immer neuen, spielerischen Kombinationen gefügt.

Die kleinformatigen Arbeiten in schwarz-weiss von Ruedi Reinhard verstehen die Form der Konstruktion der Leinwand als eigentliches Motiv. Es ist anregend zu sehen, wie seine Arbeiten die Form der Leinwandquadratur aufbrechen und die Wand als Teil der Komposition miteinbeziehen. Sie sind damit weder Bild noch Skulptur oder Relief und doch ist von allen dreien, in ihnen was enthalten. Das Konkrete der konkreten Kunst wird hier unkonkret, reizt die Grenzen aus und wagt einen Ausbruch in andere Dimensionen. Konfrontiert werden diese Arbeiten mit einem Bild, bei dem eine Binnenform sich in einer heiklen Balance zu ihrer Umgebungsfläche befindet und dadurch ein variantenreiches Spannungsverhältnis provoziert.

Wie soll man all diese Arbeiten «für den geistigen gebrauch» verwenden? Ein persönlicher Tipp, auch wenn er nicht einfach umzusetzen ist. Ich versuche die Arbeiten der hier versammelten Künstler:innen wie ein Gedicht oder ein Lied auswendig zu lernen, um so jederzeit die Möglichkeit zu haben, sie in meinem Innern zu vergegenwärtigen und zu verwenden.

Übrigens hat Max Bill seinen Werken oftmals Titel gegeben, die den Weg zu ihrem Entstehen aufzeigen und damit seine Kunst transparent und nachvollziehbar machen. Nur dank solcher Konzessionen hat die «art concret» bis heute überlebt, sich weiterentwickelt und nichts von ihrem Reiz verloren.   

Robin Maus